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AutorenbildYvonne Ineichen

Ich weiss, wie du tickst!




Was wäre wenn ... wir uns tagtäglich mit frischer Neugier begegnen könnten. Ohne all die verwebten Erinnerungen, erlebten Geschichten. Welche uns dazu verleiten, jemanden an einem Ort festzuzurren, den er/sie vielleicht schon lange verlassen hat.


Du betrittst einen Raum voller Menschen. Menschen, die dich schon ewig durch dein Leben begleiten. Mal näher, mal weiter. Man macht es sich bequem. Nährt sich und zehrt voneinander. Manchmal ist man sich Licht, manchmal Schatten. Webt ein feines Netz. Aus gemeinsam Erlebten. Ein Netz, das Tragfläche und Fundament bildet. Etwas, worauf man zurückfällt, wenn die Zeiten mal stürmisch sind und alles ins Wanken gerät. Welch wohlig, sicheres Gefühl, dieses Netz. Eingewoben in Geborgenheit. Im besten Fall. Doch genau hier stocke ich.


Du betrittst einen Raum voller Menschen. Menschen, die dich schon ewig begleiten. Dich oftmals besser zu kennen scheinen als du dich selbst. Ihr Bild von dir ist gemalt, die Farben schon längst trocken. So viele Schichten übereinander. Dass dem nichts mehr hinzuzufügen ist. Und so hängt es da. Dieses Bild, wenn du in den Raum trittst. Gezeichnet aus der Vergangenheit. Fein säuberlich in der Schublade «so ist es» verstaut. Du hast keine Möglichkeit, es neu zu zeichnen. Vielleicht an den Farben zu klauben, bis sie abblättern. Damit da wieder weisse Fläche ist, die du neu bemalen kannst. Quadrate durch Punkte, Betonmauern durch Blumenwiesen ersetzen. Was wäre wenn ...?


Du betrittst einen Raum voller Menschen. Menschen, die schon lange Teil deines Lebens sind. Und obwohl gemeinsame Geschichten und Erinnerungen euch verbinden, sich verweben. Ist da bei jeder Begegnung so viel Neugier. Sperrangelweit offene Herzen warten auf dich. Und darauf, zu entdecken, wer du heute bist. Weil selbst du dich das jeden Tag aufs Neue fragst. Denn ich meine: Genau diese Frage sollte im vertrauten Umfeld immer wieder Raum einnehmen. Weil sie es ermöglicht, neugierig aufeinander und offen füreinander zu sein. Weil sie ermöglicht, sich weiterzuentwickeln und auszuprobieren. Sich mit wachem Geist und Entdeckerfreude zu begegnen. Wenn all das gemeinsam Erlebte zwar da ist, es für die Begegnung aber keine Rolle spielt. Sondern es in diesem Moment einfach nur darum geht, diesen Menschen kennenzulernen. Dann, so meine ich, kann Magie sich ausbreiten.


Man ginge aufeinander zu und einen Weg gemeinsam, ohne zu wissen, was kommen mag. Erlebt miteinander eine Welt, in der Zauberhaftes sich die Hände reicht. Ohne dass gemeinsam Erlebtes dazwischenstolpert und den Moment übermalt. Man ginge. Mit offenem Herzen. In der Gewissheit, dass diese Begegnung nicht einfach ein bequemer Sessel ist. Sondern einer, auf dem man sich zum ersten mal setzt. An einem Ort, an dem die Sitzplätze noch nicht verteilt sind. Ich meine, das wäre etwas, das in jedem Moment neu gelebt, gehegt, gepflegt werden dürfte. Denn der Moment, so wie er sich jetzt zeigt, wird niemals wiederkehren.



Ich habe einen Wunsch an dich. Sehe das bemerkenswerte Wunder, wenn du einem Menschen begegnest. Egal, wie lange du ihn schon kennst. Lass all das, was du meinst zu wissen, zu kennen, weg. Und gib ihm die Chance, dass er sich selbst bei jedem Miteinander so zeigen darf, wie er heute gerade ist. Ohne dieses oder jenes vorauszusetzen oder zu erwarten. Damit für jeden zu jeder Zeit Raum ist. Um sich frei zu entfalten. Dann, so meine ich, betrittst du einen Raum voller Menschen. Menschen, die dich schon ewig begleiten. Mit vor Freude pochendem Herzen. Begleitet von der Frage: Wem begegne ich wohl heute? Anstelle von: Ich weiss, wie du tickst.

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